Was sind die Grundlagen juristischer Arbeitstechniken?
Inhaltsverzeichnis
An den Universitäten lernen die Studentinnen und Studenten, juristische Fragestellungen mit Hilfe von Gesetzestexten zu begutachten. In der Regel werden dafür konkrete Lebenssachverhalte dargestellt, die als sog. Fälle entsprechend zu lösen sind.
Ein solcher Fall stellt einen Lebenssachverhalt, kurz Sachverhalt, dar, der entweder in ähnlicher Weise tatsächlich existiert hat oder aber existieren könnte. Der Verfasser eines solchen Übungsfalles gibt sich in aller Regel sehr viel Mühe, den zugrundeliegenden Sachverhalt klar zu beschreiben und alles Wesentliche zu benennen. Dies bedeutet für den Studierenden als Bearbeiter des Falles, dass alles für die Bearbeitung und Lösung des Falles Nötige im Sachverhalt zu finden ist. Angaben, die der Text nicht enthält, sind dann entsprechend nicht zutreffend bzw. nicht relevant und dürfen auch nicht hinzugedacht werden. Das bedeutet für die Bearbeitung eines Falles:
- Die Aufgabenstellung (meist ist dies die Fallfrage) zuerst lesen, um beim Lesen des Falltextes bereits die Fragestellung berücksichtigen zu können.
- Text des Falles gründlich durchlesen.
- Den Fall zum besseren Verständnis ein zweites Mal lesen.
- Während des Lesens wichtige Textstellen markieren.
- Eigene Notizen zum Fall machen, evtl. sogar Teile der Lösung skizzieren. Kommt es auf Datumsangaben an, dann ist es sinnvoll, die zugehörigen Notizen in chronologischer oder lösungsrelevanter Reihenfolge aufzuschreiben.
- Gliederung für die Lösung erstellen. Dann kann später, falls Zeitdruck besteht, im Eifer des Gefechts nichts vergessen werden.
- Es darf nichts hinzugedacht werden. Alles Relevante steht im Aufgabentext. Im Allgemeinen ist kein Satz des Textes bedeutungslos.
- Hinweise beachten. Oftmals geben diese auch Hinweise, in welche Richtung die Lösung gehen soll.
- Die Angaben im Sachverhalt sind als wahr hinzunehmen, auf keinen Fall dürfen diese in Frage gestellt werden.
Die Fallfrage
Am Ende jedes Falles stehen eine oder mehrere Fallfragen, die es zu bearbeiten bzw. juristisch zu prüfen gilt. Nicht zu prüfen sind damit all jene Ansprüche, die über die Fallfrage nicht abgedeckt sind.
Beispiel:
Die Fallfrage lautet: „Kann V von K den Kaufpreis i. H. v. 1.000,- € verlangen?“
Hier ist also gefragt, ob V von K den Kaufpreis gem. § 433 Abs. 2 BGB verlangen kann.
Falsch wäre es beispielsweise demnach zu prüfen, ob K von V gem. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB verlangen kann, dass V die Sache übergibt und dem K das Eigentum an der Sache verschafft.
Fallfragen können sehr konkret sein (wie im Beispiel zuvor) oder aber auch allgemein (d. h. abstrakt) formuliert sein.
Beispiel für eine abstrakte Fallfrage:
„Wie ist die Rechtslage?“
Falls dem Sachverhalt keine weitere Einschränkung zu entnehmen ist, sind alle möglichen Ansprüche der beteiligten Personen untereinander zu begutachten und entsprechend juristisch zu lösen.
Bezogen auf das vorangegangene Beispiel ist nun sehr wohl auch zu prüfen, welche Ansprüche K gegen V haben könnte, z. B. denjenigen aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB.
Der Gutachtenstil
Der Gutachtenstil ist die juristische Arbeitstechnik, die die Studierenden an Universitäten anwenden müssen, um einen Fall zu lösen. Dabei tastet man sich suchend und fragend, immer im Konjunktiv, an eine vertretbare Lösung heran.
Im Gegensatz dazu verkündet beispielsweise der Richter ein Urteil, das er anschließend begründet. Diese Vorgehensweise wird Urteilsstil genannt. Der Urteilsstil ist bei der Bearbeitung von juristischen Fällen an der Universität unbedingt zu vermeiden.
Ebenso ist der sog. Erzählstil strikt zu vermeiden. Jedes juristische Gutachten hat eine feste Struktur, die es einzuhalten gilt.
Zu Beginn eines jeden Gutachtens steht die Beantwortung der sog. 4-W-Frage:
Wer will was vom wem woraus?
Diese Frage ist auch zu stellen und zu beantworten, wenn die Fallfrage lediglich abstrakt formuliert ist. Dann gibt es meistens mehrere Antworten auf die 4-W-Frage.
Beispiel von oben:
Fallfrage: „Wie ist die Rechtslage?“
Es soll zunächst geprüft werden, welche Ansprüche V als Verkäufer gegen den Käufer K hat.
Wer (will): V
Was: Zahlung des Kaufpreis i. H. v. 1.000,- €
(von) Wem: K
Woraus: § 433 Abs. 2 BGB
Damit ergibt sich für eine juristische Prüfung im Gutachtenstil die folgende Formulierung:
V könnte einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises i. H. v. 1.000,- € gegen K haben aus § 433 Abs. 2 BGB.
bzw. in der häufiger gebräuchlichen Variante, bei der die beiden Anspruchsseiten am Anfang stehen:
V könnte gegen K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises i. H. v. 1.000,- € haben aus § 433 Abs. 2 BGB.
In den meisten Fällen ist die 4-W-Frage zu beantworten, also wer was von wem woraus will. Während die Beantwortung der ersten drei „W“ noch relativ einfach ist (V, Kaufpreiszahlung, K), ist die vierte W-Frage meist etwas schwieriger. Hierzu ist es nötig, die richtige Anspruchsgrundlage zu finden und diese evtl. mit weiteren Vorschriften zu kombinieren. Gem. § 194 Abs. 1 BGB ist ein Anspruch „das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen“. Somit ist eine Anspruchsgrundlage eine Vorschrift, die einer Person das subjektive Recht zuspricht, von einer anderen Person ein Tun oder Unterlassen zu verlangen.
Beispiel: „Welche Schadensersatzansprüche hat K gegen V?“
Hier kommen nur Anspruchsgrundlagen in Betracht, die den Schadensersatz als Rechtsfolge haben.
Anspruchsgrundlagen sind bereits im Gesetzestext erkennbar, da diejenigen Paragrafen dieses Tun oder Unterlassen explizit ausdrücken. Derartige Stellen im Gesetz sind beispielsweise an folgenden Formulierungen zu erkennen:
- „kann … verlangen“ (z. B. Zahlung des Kaufpreises aus § 433 Abs. 2 BGB)
- „ist … verpflichtet“ (z. B. die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB)
- „hat … zu leisten“ (z. B. Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 S. 1 BGB)
Kommen für die eine Seite mehrere Anspruchsgrundlagen in Betracht, dann sind diese der Reihe nach zu prüfen, selbst wenn zuvor ein Anspruch bereits bejaht wurde. Beispielsweise könnte dem Anspruchsteller ja neben Schadensersatz auch noch die Erstattung von vergeblichen Aufwendungen zustehen. Kommen also verschiedene Ansprüche für eine Seite in Betracht, dann sollten diese in einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden, und zwar wie folgt:
- Vertragliche Ansprüche (z. B. § 433, § 535, § 611, § 631 BGB)
- Vertragsähnliche Ansprüche (z. B. § 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1S. 1, § 241 Abs. 2 BGB)
- Gesetzliche Ansprüche (z. B. § 985, § 823 Abs. 1 BGB)
- Ansprüche aus anderen Gesetzbüchern, z. B. Handelsgesetzbuch
Es sollten immer nur diejenigen Ansprüche geprüft werden, die auch tatsächlich in Frage kommen könnten. Die Prüfung von offensichtlich abwegigen Ansprüchen ist dagegen stets zu vermeiden.
Die Struktur eines juristischen Gutachtens
Grundsätzlich sollte ein juristisch abgefasstes Gutachten gut strukturiert sein, um den Lösungsweg übersichtlich und leichter verständlich zu präsentieren. Dies hilft dem Bearbeiter selbst, nicht die Übersicht zu verlieren, aber auch dem Korrektor, der dann schneller den roten Faden im Fortgang der Argumentation erkennen kann. Hilfsmittel dafür sind einerseits, an geeigneten Stellen Absätze einzufügen und andererseits, eine nummerierte Gliederung zu verwenden.
Die Juristen nummerieren ihre Texte zumeist alphanumerisch, und zwar wie folgt:
- I. 1. a) aa. bb. … b) … 2. … II. … B. …
Beispiel:
A. Ansprüche V gegen K
I. Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB
1. Wirksamer Kaufvertrag
a) Aufforderung zur Abgabe eines Angebots
b) Angebot
c) Annahme
II. Anspruch aus …
B. Ansprüche K gegen V
…
Ein juristisches Gutachten besteht grundsätzlich aus drei Teilen:
- Prüfung, ob der Anspruch überhaupt entstanden ist.
Beispiel:
Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB) - Wenn ja: Prüfung, ob der Anspruch möglicherweise untergegangen ist.
Beispiele:
Anfechtung (§ 142 BGB), Rücktritt (§ 346 BGB) - Wenn nein: Prüfung, ob der Anspruch durchsetzbar ist.
Beispiele:
Einrede der Verjährung (§ 214 BGB), Einrede des nicht erfüllten Vertrages (§ 320 BGB)
Der Aufbau eines juristischen Gutachtens
und die Subsumtionstechnik
Jedes gute juristische Gutachten befolgt die Technik der Subsumtion. Die Subsumtion ist der Vorgang, bei dem ein Begriff unter einen anderen geordnet ist, d. h. der Sachverhalt wird unter die Voraussetzungen der Norm untergeordnet.
Dazu wird die Anspruchsgrundlage in ihre einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen zerlegt. Dann wird i. d. R. jedes Tatbestandsmerkmal definiert und der entsprechende Ausschnitt des Sachverhalts dem Tatbestandsmerkmal zugeordnet. Abschließend wird ein Zwischen- bzw. Endergebnis notiert.
Das juristische Gutachten, d. h. die Lösung eines Falles im Gutachtenstil, unterteilt sich in vier Stufen:
- Obersatz
- Tatbestandsvoraussetzungen
- Definition mit Subsumtion
- Ergebnis
Diese Stufen werden im Folgenden vorgestellt.
Prüfung, ob ein Anspruch entstanden ist
Der Obersatz
Hauptaugenmerk des Obersatzes ist die Beantwortung der oben beschriebenen 4-W-Frage („Wer will was von wem woraus?“). Allerdings wird im Obersatz keine Frage gestellt, sondern er wird stets als Hauptsatz und im Konjunktiv formuliert.
Beispiel:
Falsch:
- „Könnte V von K Zahlung in Höhe von 10.000,- € aus Kaufvertrag gemäß § 433 Abs. 2 BGB verlangen?
- „Könnte V gegen K einen Anspruch auf Zahlung von 10.000,- € aus Kaufvertrag gemäß § 433 Abs. 2 BGB haben?“
Richtig:
„V könnte gegen K einen Anspruch auf Zahlung in Höhe von 10.000,- € aus Kaufvertrag haben gemäß § 433 Abs. 2 BGB.“
Nennung der Tatbestandsvoraussetzungen
Ob die im Obersatz formulierte Fragestellung bejaht werden kann oder verneint werden muss, ist nun maßgeblich davon abhängig, ob die Tatbestandsvoraussetzungen auf den genannten Sachverhalt zutreffen oder nicht. Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind in den im Obersatz genannten Anspruchsgrundlagen enthalten. Ein Anspruch kann nur dann bestehen, wenn die im Gesetz genannten Tatbestandsmerkmale im konkreten Sachverhalt auch gegeben sind.
Beispiel (Fortführung):
Es soll geprüft werden, ob V gegen K einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung aus § 433 Abs. 2 BGB hat. § 433 BGB trägt den Titel „Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag“. Daher muss zwischen beiden ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen sein. Ein Kaufvertrag kommt durch Angebot und Annahme zustande. Daher müsste zunächst weiter im Gutachten geschrieben werden:
„Dann müsste zwischen V und K ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen sein. Ein wirksamer Kaufvertrag kommt durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, bestehend aus Angebot und Annahme (§§ 145 ff. BGB), zustande.“
Definition der Tatbestandsmerkmale und Subsumtion
In der Regel enthält die Anspruchsgrundlage mehrere Tatbestandsmerkmale. So muss beispielsweise bei einem Kaufvertrag (bzw. allgemeiner: bei einem Vertrag) eine Vertragspartei ein Angebot wirksam unterbreitet haben, das die andere Seite dann auch wirksam angenommen haben muss. Wichtig ist dabei, dass die Tatbestandsmerkmale nun getrennt voneinander und in logisch korrekter Reihenfolge zunächst definiert, danach unter den zugrunde liegenden Sachverhalt subsumiert und abschließend ein Zwischenergebnis formuliert wird. Im Gegensatz zum Obersatz wird hierbei der Indikativ verwendet.
Beispiel (Fortführung):
„Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung […]. Laut Sachverhalt bot V dem K seinen gebrauchten Pkw des Typs B mit […] für 10.000,- € an […]. V hat daher ein wirksames Angebot an K abgegeben.
Eine Annahme ist […]. Hier hat K […]. K hat das Angebot der V also auch wirksam angenommen.“
Ergebnis
Abschließend wird kurz zusammengefasst und das Ergebnis der Subsumtion formuliert. Damit wird zugleich die Rechtsfolge beschrieben.
Beispiel (Fortführung):
„Zwischen V und K ist ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen. Somit hat V gegen K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 10.000,- € aus § 433 Abs. 2 BGB.“
Anspruch könnte untergegangen bzw. nicht mehr durchsetzbar sein
Bisher wurde geprüft, ob ein Anspruch entstanden ist. Wurde dieser verneint, dann ist das Gutachten an dieser Stelle zu beenden. Sollte der Falltext allerdings einen Hinweis enthalten, dass das Gutachten im Falle eines Nichtentstehens des geprüften Anspruchs dennoch fortgesetzt werden soll, dann wird kurz ein Satz eingefügt, dass nun im Folgenden von der Annahme ausgegangen wird, der Anspruch sei entstanden.
Besteht grundsätzlich zunächst ein Anspruch, dann ist dies das Resultat des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale, die die Anspruchsgrundlage voraussetzt. Dennoch wäre denkbar, dass der Anspruch wieder untergegangen ist. Dann könnte beispielsweise eine Vertragspartei einen Anspruch auf Schadensersatz und/oder Ersatz von vergeblichen Aufwendungen haben.
Auch wenn der Anspruch grundsätzlich entstanden ist, können Gründe gegeben sein, dass der Anspruch nachträglich wieder weggefallen ist oder aber nicht (mehr) durchgesetzt werden kann. Dies ist i. d. R. der Fall, wenn Einwendungen und/oder Einreden bestehen. Dazu muss zunächst wieder eine Rechtsnorm genannt werden, aufgrund derer der Anspruch vernichtet oder die Durchsetzbarkeit des Anspruchs verhindert wird. Die Prüfung dazu erfolgt wieder analog zur Prüfung, ob der Anspruch überhaupt entstanden ist.
Beispiel (Fortführung):
Zuvor wurde festgestellt, dass V gegen K einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung aus § 433 Abs. 2 BGB hat. Der Kaufvertrag zwischen V und K wurde am 4.12.2008 geschlossen. Da V erst am 2.11.2012 bemerkt hat, dass die Sache noch nicht bezahlt wurde, verlangt er nun Zahlung des Kaufpreises von K. Da K auch ein paar juristische Grundkenntnisse hat, wendet er sich umgehend an V und teilt ihm mit, dass der Anspruch des V bereits verjährt sei. Kann V dennoch noch Zahlung des Kaufpreises von K verlangen?
Vorliegend beruft sich K auf die Einrede der Verjährung (§ 214 Abs. 1 BGB). Zwar ist der Anspruch des V aus § 433 Abs. 2 BGB zuvor bejaht worden, aber die Tatbestandsmerkmale sind hierbei nur auf den Kauf an sich bezogen. Aufgrund der Tatsache, dass sich K auf die Verjährung beruft, ist nun zu prüfen, ob die Tatbestandsmerkmale der Verjährung tatsächlich gegeben sind oder ob eine Verjährung nicht vorliegt und V weiterhin die Kaufpreiszahlung verlangen kann.
Der Fortgang der Fallbearbeitung ist nun analog zur Prüfung des Anspruchs auf Zahlung des Kaufpreises vorzunehmen. Liegt im Ergebnis eine Verjährung des Anspruchs vor, dann hat V im Gesamtergebnis keinen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises mehr aus § 433 Abs. 2 BGB.
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